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Nicht bang

 

Dass Raum und Zeit keine große Bedeutung haben, ist für den Phantastonauten eine vollkommen alltägliche Gegebenheit. Was zunächst – rein theoretisch - nach einer Vielzahl spannender Möglichkeiten aussieht, hat angewendet in der Praxis leider einige gravierende Nachteile; dies wird vielleicht verdeutlicht anhand der Geschichte, die ich heute zu erzählen habe.

 

Alles begann – wie immer - völlig harmlos mit einem meiner vertrauten und dem Leser inzwischen wohlbekannten Spaziergänge im Nördlichen Wald. Wie es manchmal geschieht, machten sich meine Gedanken selbständig und schweiften ab in die längst vergangenen Tage meiner Kindheit und Jugend, die ich in einem wilden und unzugänglichen Teil ebendieses Waldes verbracht hatte.

 

 

 

Als ich nach einiger Zeit aufblickte, hatte sich meine Umgebung merklich verändert. Alles wirkte farblos, einem alten Schwarzweiß-Film ähnlich und dadurch fast wie bei einer Zeitreise in die Vergangenheit. Und der Wald war ein anderer als noch zu Beginn meiner Wanderung. Ich folgte weiter dem Weg, doch nach einer Weile musste ich mir eingestehen, dass ich mich verlaufen hatte. Nun wurde es allmählich dunkler im Wald, es war Abend und die Nacht zog schnell herauf. Ich begann mich beunruhigt zu fragen, ob ich die Nacht hier im Wald verbringen musste.

 

Da sah ich unvermittelt zwischen den Bäumen ein Licht schimmern und verließ den Weg in der Hoffnung auf eine Herberge für die Nacht. Schnell stand ich vor einem Haus, es war tatsächlich ein Gasthof, wie das Schild über der Tür verkündete. Aber er wirkte seltsam verlassen und verfallen. Beim genauen Hinschauen entdeckte ich Brandspuren an der Fassade und den Fenstern neben der Tür. Ein Gefühl des Wiedererkennens beschlich mich, da war etwas Vertrautes, Altbekanntes in dem Schriftzug auf dem Schild mit dem Namen des Gasthofes. Leider war dieser Name aufgrund der Brandspuren und der hereinbrechenden Dunkelheit nicht mehr zu entziffern. Fast hätte ich mich umgedreht und wäre weitergegangen, doch das Licht in einem der Fenster deutete die vage Möglichkeit an, dass dieses Haus mir ein Nachtlager bieten könnte und so klopfte ich an die Holztür. Nichts geschah und nach mehreren weiteren Versuchen, mich bemerkbar zu machen, versuchte ich die Türklinke. Quietschend öffnete sich die Tür und ich betrat vorsichtig das Haus, tastete mich im Dunkel durch einen kurzen Vorraum und stand schließlich in einem Raum der einem Wohnraum mehr als einer Gaststube ähnelte, er war klein und staubig, eine trübe Lampe gab nur wenig Licht. Da war ein alter Holztisch in der Mitte, Stühle darum und in der mir gegenüberliegenden Ecke des Raumes, auf der anderen Seite des Tisches, sah ich eine sitzende Gestalt. Es war eine alte Frau, sie saß dort zusammengekauert auf einem Stuhl, die Füße ruhten auf einem Fußbänkchen und die einzige Bewegung, die ich an ihr wahrnahm waren ihre Hände, die anscheinend mit einer Näharbeit beschäftigt waren. Sich sprach nicht, schaute aber zu mir herüber und als ich ihrem trüben, grauen Blick begegnete, überfiel mich ein Gefühl der Bangigkeit. Ich konnte die Augen nicht von ihr abwenden und das Gefühl wurde immer stärker. Es war nicht so, dass die alte Frau mich erschreckte, vielmehr schien es, als wäre auch sie von großer Furcht erfüllt und teilte dieses Gefühl mit mir. Gerade als ich meinte, es nicht mehr zu ertragen, hörte ich ein Klopfen an der Haustür. Dies brach den Bann, ich drehte mich um, verließ den Raum und öffnete die Tür, durch welche ich soeben das Haus betreten hatte.

 

Ein Kind stand dort, mit bleichem aber freundlichem Gesicht. Es sprach nicht, aber es nahm mich an der Hand und führte mich um das Haus herum. Wie in einem Traum befangen, folgte ich dem freundlichen Wesen. Seltsamerweise war das Gefühl der Bangigkeit in seiner Anwesenheit schlagartig von mir gewichen und ich fühlte nun stattdessen Wärme und Zuversicht.

 

Dieses Gefühl war angesichts des Ortes, an den mich das Kind führte eher unpassend, denn hinter dem Haus befand sich ein Gräberfeld, alt und verwahrlost, mit halb im Erdboden versunkenen Grabsteinen und Schildern. Lesen konnte ich darauf nicht viel, nur einige Jahreszahlen, keine neuer als 1945. Dies nahm ich nur zur Kenntnis, ohne mich zu wundern, genau wie die Tatsache, dass ich meine Umgebung anscheinend trotz finsterer Nacht gut erkennen konnte. Ich sah Sterne am wolkenlosen Himmel aber keinen Mond. Das Kind führte mich ohne zu zögern weiter bis zum Rand der Begräbnisstätte. Dort stand ein großer aufrechter Stein, über 2 Meter hoch und mit mir unbekannten Schriftzeichen bedeckt. Daran lehnten ein Spaten und eine Schaufel. Das Kind bedeutete mir mit einer nicht unfreundlichen Geste, am Fuße dieses Steins mit dem Graben zu beginnen.

 

Widerspruch war nicht möglich, denn es drehte sich um und verschwand im Wald. Also begann ich zu graben. Es war eine mühsame Arbeit, der Boden war schwer und gab nur zögernd nach. Auch das Gefühl der Bangigkeit kehrte nun zurück. Vielleicht nicht ganz unbegründet angesichts der Situation, in der ich mich befand. Doch ich konnte nun nicht mehr aufhören, die Arbeit folgte ihrer eigenen traumartigen Folgerichtigkeit und wollte erledigt werden. Und so grub ich die ganze Nacht.

 

Als ich glaubte, am Ende meiner Kraft zu sein, stieß der Spaten mit einem hellen Klirren auf einen harten Gegenstand, vorsichtig grub ich ihn mit den Händen aus und kletterte aus der Grube, um ihn mir anzuschauen. Es handelte sich um einen Stein, etwa faustgroß mit einer unregelmäßigen, rauen Oberfläche. Ein Stück Kohle, pechschwarz. Dann hörte ich ein Geräusch, verwirrt blickte ich auf.

 

Vor mir, am Rande des Gräberfeldes stand eine Frau, gekleidet in Lumpen aber von majestätischer Haltung, ihr Gesicht war jung und von bleicher Schönheit, ihre Haare dunkel. Obwohl es völlig windstill war, bewegten sich die schwarzen Strähnen wie Schlangen um ihren Kopf. Hinter ihr sah ich eine Menschenmenge. Schweigend. Einzelheiten konnte ich nicht erkennen, einfach nur dunkle, irgendwie neblige Gestalten, weit über hundert davon. Sie standen einfach nur da, wartend.

 

Die Frau bedeutete mir, näher zu treten. Seltsamerweise fühlte ich keine Furcht und nun entdeckte ich, neben der Frau stehend, wieder das Kind, welches mich hierhergeführt hatte. Es stand klein aber irgendwie strahlend direkt neben der Frau und blickte mich freundlich an.

 

Wie man einer Königin nicht widersprechen sollte, so folgte auch ich nun der Aufforderung der Frau und trat zu ihr. Ich spürte, dass ich ihr mein Fundstück anbieten sollte und so hob ich die Hand, welche das Stück Kohle immer noch festhielt. Sie beugte sich ein wenig vor, betrachtete das Fundstück. Ein dunkles Interesse lag in ihrem Blick aber nichts daran wirkte bedrohlich auf mich.

 

Dann öffnete sie ihren Mund und blies ihren Atem auf das Kohlestück in meiner Hand. Dies geschah so selbstverständlich und weiterhin einer unwiderlegbaren Traumlogik folgend, dass ich meine Hand nicht zurückziehen konnte und wollte. Auch nicht, als die Kohle begann zu glühen. Zuerst nur schwach, aber dann immer stärker und heller. Seltsamerweise spürte ich keinen Schmerz in der Hand, nur ein Ziehen tief in meinem Inneren, unangenehm, vertraut, aber nicht unerträglich. Das immer heller werdende Licht des Kohlestücks erleuchtete den Wald und gab der Welt die Farbe zurück und als der glühende Klumpen am Ende zersprang, dämmerte um mich herum der Morgen eines neuen Tages. Ich stand allein im Wald, keine Gräber und kein Haus waren zu sehen. Weder die Frau, noch dunkle Gestalten. Nur der Nördliche Wald im vorsichtig tastenden Licht des beginnenden Tages. Und vermischt mit dem Chor der erwachenden Vögel das Rufen einer weit entfernten Kinderstimme.