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Die Erfindung von Graphic-Poetry

Es war nie meine Absicht, Gedichte zu schreiben, nichts lag mir ferner. Auf welche Weise es dennoch dazu kam, werde ich heute erzählen.

Eines Morgens saß ich wie so oft an meinem Arbeitstisch, schlürfte an einer Tasse Tee und kritzelte ziellos auf einem Blatt Papier herum. Plötzlich stutzte ich, denn inmitten bewussten Gekritzels entdeckte ich eine Gestalt, die mich verdutzt-fröhlich anguckte. Da ich in meiner Eigenschaft als Phantast an derartige Erscheinungen gewöhnt bin, fragte ich: Wer bist denn du?

Die Gestalt antwortete nicht, jedenfalls nicht sofort, vielleicht war meine Frage zu direkt. Erst im weiteren Verlauf des Tages wurde mir klar, dass ich den Namen meines neuen imaginären Freundes selbst auswählen durfte. Ich entschied mich für „Verbaud“, zusammengesetzt aus den Nachnamen der zwei Dichter, die in dieser Zeit eine große Bedeutung für mich hatten: Verlaine und Rimbaud.

 

Am nächsten Tag entdeckte ich auf besagtem Tisch, an dem ich arbeite, eine winzige Springspinne. Sie schien mich zu beobachten, fand mich aber nur mäßig interessant und ging dann weiter ihrer versponnenen Wege. Ich dachte laut: Nanu! Damit war die Namensgebung in diesem Fall etwas schneller erfolgt, denn ihr Name lautete fortan „Nanu, die Singspinne“.

 

Aus nicht näher erklärbaren Gründen befand ich mich in diesem Lebensabschnitt im festen Griff von gefühlsmäßigem Schmerz und schwärzester Verzweiflung. Es wollte einfach nicht aufhören. Eine Möglichkeit, diesen finsteren Gefühlen - zumindest kurzfristig - zu entkommen, war es, auf mein Bike (Fahrrad) zu steigen und eine Runde damit zu drehen. Auf einer dieser Fahrten tauchte, wie aus dem Nichts, die erste Strophe auf. Ich nannte es Gesang, weil dazu ein bestimmter Rhythmus gehört, ein Beat oder Flow. Es war, als würde Verbaud auf meiner Schulter sitzen und es mir ins Ohr singen, rappen oder was auch immer. Dazu erschien ein passendes Bild vor meinem inneren Auge. Graphic-Poetry war geboren. 

 

Dies wiederholte sich an mehreren Tagen hintereinander: Fahrradfahren, Sprech hören, anhalten und schnell aufschreiben. Abends hinsetzen und Bild dazu malen. Daraus entstand das erste Buch mit dem Titel „Das Schwanenfußzinnoberrote Gesangbuch“.

 

Aber damit war es noch nicht zu Ende. Ich entdeckte, dass ich einfach nur den Rhythmus in meinem Inneren finden musste - es war ein Gefühl wie aufs Rad steigen und los geht’s - und schon hörte ich den Sprech dazu. So entstand das zweite Buch, „Nanu und die Schwarze T-Maschine“. Ich kam mit dem Zeichnen nicht mehr nach, zumal ich allmählich anspruchsvoller wurde und deswegen längere Zeit für die Bilder benötigte. Kurzerhand schrieb ich den gesamten Text für das zweite Buch auf ein A2-großes Bild, welches dann die Atmosphäre dieser Geschichte bestimmte.

 

Die schwierigen Zeiten dauerten an und so kam es, dass ich nach dem Ende der zweiten Geschichte weiterschreiben musste, obwohl ich mit den Bildern noch nicht so weit war. So entstand, neben einigen anderen Episoden, das dritte Buch „Die Suche nach dem Narrenschlüssel“. Dass ich es erst jetzt veröffentliche, viele, viele Jahre nach seiner Entstehung, liegt daran, dass ich mir mit den Illustrationen genug Zeit gelassen habe, um sie wirklich gut hinzubekommen.

 

Auch wenn ich mich heute in einem anderen Lebensabschnitt befinde, in dem Trauer und Leid mein Fühlen nicht mehr so stark bestimmen, so brauche ich nur einige Zeilen in den drei Büchern zu lesen und ich werde wieder von den Gefühlen aus den vergangenen Zeiten überflutet. Eine öffentliche Lesung ist aus diesem Grunde schwierig. Auch weiß ich nicht genau, ob da nicht noch weitere Strophen darauf warten, aufgeschrieben zu werden. Mein Eindruck war, dass Verbaud erstmal abwartet, wie gut ich den Job mit den Illustrationen hinbekomme. Danach sehen wir mal weiter …