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Langsamgehenlassen

 

Der Leser, der mit dem „Logbuch des Phantastonauten“ einigermaßen vertraut ist, wird nur mäßig überrascht sein über die Tatsache, dass mein jüngster Spaziergang im Nördlichen Wald nicht ganz ereignislos verlief.

 

Bekanntlich ist es so, dass der gemeine Waldspaziergänger beim Betreten des Waldes seine Alltagswelt mit dorthin bringt. Sie legt sich um ihn herum wie eine Glocke und verhindert so auf wirkungsvolle Weise die Wahrnehmung der Anderen Wirklichkeit. Schade eigentlich, aber dabei handelt es sich um eine ganz normale Sicherheitsmaßnahme, die nur seinem Schutz dient.

 

 

Für den Phantasten ist die einfachste Methode, dies zu umgehen, stehenzubleiben und anschließend nur noch mit – allerhöchstens! - halber Gehgeschwindigkeit weiterzugehen. Keinesfalls sollte man aber längere Zeit ganz stehenbleiben. Langsamgehenlassen war das Zauberwort. Auf diese Weise bewegt sich die Alltagswelt schnell mit ihrer hektischen Gangart vom Phantastonauten fort und lässt ihn innerhalb kürzester Zeit in der Welt des Phantastischen zurück. Erleichtertes Aufatmen ist die Folge, so auch bei mir, an diesem schönen Wintertag im Dezember.

 

Nachdem ich nun in der mir vertrauten Umgebung angekommen war, schaute ich mich erst einmal um. Alles wirkte normal, nix verzaubert, verhext oder verflixt. Fast war ich ein wenig enttäuscht, aber angesichts einiger meiner haarsträubenden Abenteuer in jüngster Vergangenheit in ebendiesem Wald (siehe „Logbuch des Phantastonauten“ weiter vorn), beschloss ich, lieber nur erleichtert zu sein und die Schönheit der Natur zu genießen. Dies gelang mir auf Anhieb, umso mehr, als ich nunmehr unterwegs war mit der Geschwindigkeit einer durchschnittlich großen Wegschnecke.

 

Für den Phantastonauten ist das nun zu beobachtende Phänomen selbstverständlich wissenschaftlich erklärbar: Je geringer die Gehgeschwindigkeit, desto größer wird die Intensität der wahrgenommenen Eindrücke in Relation zur Erlebniszeit. Und da die Welt der Phantasie nun einmal eine besonders hohe Intensität aufweist, wird sie auch erst unter diesen Voraussetzungen wahrnehmbar.

 

Soviel zur grauen Theorie, in der Praxis wirkte dieser Effekt nun schon eine ganze Weile auf mich ein, so dass ich allmählich das Licht der Anderen Welt zu sehen begann. Die Bäume um mich herum wirkten nun so, als würden sie sich gleich bewegen. Was sie natürlich auch tun würden, sobald ich meine Geschwindigkeit noch weiter verringern würde. Aber das ist eine andere Geschichte, die damit zusammenhängt, dass man als Phantast im Wald nicht zu lange stehenbleiben sollte. Davon ein andermal.

 

Heute eröffnete sich vor mir langsam ein großartiger Anblick: in nebliger Ferne ein riesiger Baum, der sich auf einem Hügel vor einem überirdischen Licht erhob. Aus einer Erdspalte in diesem Hügel zog eine Prozession bizarrer Wesen durch den Wald auf mich zu. Flankiert von eigenartigen Wächterinnen, die, ich könnte es beschwören, vor kurzem noch Baumstümpfe waren. All dies geschah in großer Stille, bis auf den leisen Klang von weit entfernten Fanfaren, Vogelgesang ähnlich. Die Karawane zog in einer Stimmung intensiver Feierlichkeit an mir vorüber und hüllte mich in dieses Gefühl ein wie in einen Umhang aus kostbarem Tuch. Ergriffen stand ich da und schaute ihr nach, bis ich mich besann und langsam weiterging. Stehenbleiben war zu gefährlich.